04.10.2020
Der Premier wirkt angespannt, als er BILD am Samstagabend in seinem Amtssitz in Jerewan empfängt, der Hauptstadt Armeniens.
Nikol Paschinjan (45) schläft kaum noch, immer wieder gibt es neue Schreckensmeldungen über Opfer, eine weitere Eskalation.
Die Opferzahl ist unklar, es gibt keine unabhängigen Angaben: Beide Seiten sprechen von tausenden Opfern auf der jeweils anderen Seite und wenigen hundert auf der eigenen.
Allerdings scheint klar, dass die Verluste viel höher sind als bei bisherigen Eskalationen.
Seit einer Woche tobt der Krieg um die Region Bergkarabach, um die schon seit Jahrzehnten gestritten und gekämpft wird.
Völkerrechtlich gehört Bergkarabach zu Aserbaidschan, die Region ist allerdings mehrheitlich von Armeniern besiedelt. UN und OSCE versuchen seit 1992 zu vermitteln – jetzt ist die Situation komplett eskaliert, weil Aserbaidschan das Gebiet mit Unterstützung des türkischen Präsidenten Erdogan zurückerobern will.
„Ich habe gerade mit der Kanzlerin gesprochen“, sagt Paschinjan, als er sich setzt. Armenien wünscht sich mehr Unterstützung Europas, klarere Ansagen.
BILD fragt ihn: Die Welt spricht über Donald Trump und seine Corona-Infektion statt über Armenien – ärgert Sie das?
Paschinjan: „Ich finde, dass die Ereignisse, die sich in unserer Region zutragen, von der internationalen Gemeinschaft hinreichend beachtet werden. Vielleicht liegt das auch daran, dass Söldner und Terroristen aus Syrien in der Bergkarabach-Konfliktgebiet aufgetaucht sind.“
BILD: Woher wissen Sie das?
Paschinjan: „Sie wurden von der Türkei angeheuert und transportiert, um auf der Seite von Aserbaidschan gegen Bergkarabach und Armenien zu kämpfen. Ich denke, dass dies jetzt in dieser Situation nicht mehr nur ein örtliches Sicherheitsthema ist. Es ist ein wesentlicher Teil der globalen Agenda.
Denn was hier geschieht, ist aus drei Gründen international wichtig. Erstens, weil, wie gesagt, Terroristen aus Syrien von der Türkei angeheuert und transportiert werden, um gegen Bergkarabach und Armenien zu kämpfen. Zweitens, die türkische Armee ist an diesem Prozess beteiligt. Daran zeigt sich die imperialistische Politik der Türkei, deren Vorgehen auf die Wiederherstellung des türkischen Reiches abzielt. Dazu gehören auch sonstige Aktivitäten im Mittelmeerraum, im Nahen Osten und in Libyen – wie die Türkei in diesen Regionen vorgeht. Drittens glaube ich, dass die Türkei nach 100 Jahren in die Region Südkaukasus zurückgekehrt ist, um den Genozid an den Armeniern fortzusetzen, der 1915 in der Türkei stattfand.“
Sie hatten telefonischen Kontakt mit der Trump-Delegation wegen der angespannten Lage.
Paschinjan: „Ich habe mit Präsident Trumps Sicherheitsberater O’Brien am Telefon gesprochen. Bei diesem Telefonat kamen wir überein, dass Herr O’Brien mit Präsident Trump telefonieren würde. Am Abend hörten wir, dass Präsident Trump positiv auf Covid-19 getestet wurde. Wir sind aber in Kontakt mit unseren amerikanischen Kollegen. Die USA sind Co-Vorsitzende der Minsk-Gruppe der OSZE, die sich mit der Lösung des Bergkarabach-Konflikts beschäftigt.“
Die internationale Haltung ist: „Völkerrechtlich gehört Bergkarabach zu Aserbaidschan, das sagen auch die UN“…
Paschinjan: „Das ist wirklich eine seltsame Behauptung. Historisch betrachtet wurde das Autonome Gebiet Bergkarabach zur Zeit der Gründung der Sowjetunion ein Teil Aserbaidschans. Das war die Folge einer willkürlichen Entscheidung Stalins, als sich die Sowjetunion bildete. Wenn wir zurückgehen zu der Zeit, als die Sowjetunion zusammenbrach, können wir sehen, dass auf dieselbe Art und Weise, wie Aserbaidschan – das ein Teil der Sowjetunion war – unabhängig wurde, auch das Autonome Gebiet Bergkarabach – der ebenfalls Teil der Sowjetunion war – unabhängig von Aserbaidschan wurde. Dies geschah entsprechend der bestehenden Gesetze und Verfassung der Sowjetunion. Wie konnte also Aserbaidschan unabhängig von der Sowjetunion werden, das Autonome Gebiet Bergkarabach aber nicht? Viele Leute könnten behaupten, dass die Sowjetunion ja nicht mehr existierte. Nun, das sowjetische Aserbaidschan existierte auch nicht, als das Autonome Gebiet Bergkarabach unabhängig wurde. Wenn Bergkarabach also zu Aserbaidschan gehörte, dann gehört Aserbaidschan zur Sowjetunion.“
Warum unterstützt Erdogan Aserbaidschan?
Paschinjan: „Wie gesagt ist es das Ergebnis der imperialistischen Politik Erdogans und der Türkei. Das Ziel lautet wahrscheinlich, die Existenz eines unabhängigen Staates Aserbaidschan zu beenden, damit die Türkei ihn übernehmen kann.
Als ich über den Genozid an den Armeniern und die entsprechende Politik sprach, wollte ich betonen, dass dies nicht nur eine Manifestation des historischen Hasses auf die Armenier ist.
Das Problem besteht darin, dass die Armenier im Südkaukasus das letzte Hindernis für die Expansion der Türkei Richtung nördlicher Südosten und Osten darstellen. Denn die imperialistische Politik der Türkei reicht deutlich weiter als in den Südkaukasus. Schauen wir uns das Vorgehen der Türkei im Mittelmeerraum, in Libyen, im Nahen Osten und Irak und in Syrien an. Meine Auffassung ist, dass Bergkarabach und Armenien aktuell eine Zivilisationsfront bilden. Und wenn die internationale Gemeinschaft nicht angemessen auf diese Tatsache reagiert, sollte die Türkei nahe Wien erwartet werden.“
Hält sich Deutschland aus Sorge vor einer Reaktion Erdogans zurück?
Paschinjan: „Ich möchte die Positionen deutscher Politiker nicht kommentieren. Ich möchte lediglich die Gelegenheit nutzen, um die notwendigen Informationen darzustellen, die die deutschen Politiker – und andere – vielleicht benötigen.“
Was sollte Deutschland tun?
Paschinjan: „Ich bin der Meinung, dass die europäischen Länder Gewalt und die Lancierung von Gewalt durch die Türkei und Aserbaidschan sowie den Angriff auf Bergkarabach und Armenien durch Terroristen eindeutig verurteilen müssen.“
Kann Kanzlerin Merkel helfen?
Paschinjan: „Die auf Wahrheit beruhende Stimme solcher Anführer kann die Wirklichkeit stark beeinflussen. Der französische Präsident Emmanuel Macron hat sehr deutlich gesagt, dass der Angriff von Aserbaidschan ausging. Er hat sehr deutlich gesagt, dass die Türkei den Angriff Aserbaidschans gegen Bergkarabach und Armenien ermutigt hat. Ebenfalls sehr deutlich hat er erklärt, dass es von der Türkei in Syrien rekrutierte und in das Konfliktgebiet transportierte Söldner gibt, die gegen Bergkarabach und Armenien kämpfen sollen.
Im Wesentlichen hat Russland dasselbe gesagt, wenn auch nicht ebenso exakt und direkt. Aber die Tatsachen in Bezug auf die Söldner wurden im Grunde auch von der Islamischen Republik Iran anerkannt, das ist sehr wichtig.“
In Deutschland wird sehr kritisch gesehen, dass ausgerechnet Russland Ihr Verbündeter ist und Putin selbst einen mörderischen Krieg in Syrien und der Ukraine führt.
Paschinjan: „Ich werde die in Ihrer Frage enthaltenen Bewertungen nicht kommentieren, denn sehr unterschiedliche Ereignisse werden von verschiedenen Akteuren und aus verschiedenen Perspektiven ganz anders gesehen.“
Könnte die russische Armee Ihnen helfen?
Paschinjan: „Die russische Militärbasis Nr. 102 befindet sich in Armenien. Wir haben ein gemeinsames Luftabwehrsystem. Der Vertrag zu diesem System legt sehr deutlich fest, in welchen Fällen diese Streitkräfte auch zur Sicherheit Armeniens eingesetzt werden können.“
Wann könnte es dazu kommen?
Paschinjan: „Der Vertrag legt bestimmte Fälle fest. Ich bin mir sicher, dass Russland seinen vertraglichen Verpflichtungen nachkommen wird, falls diese Fälle eintreten.“
Können Sie sich Friedensverhandlungen mit Erdogan vorstellen?
Paschinjan: „Ich stufe das, was geschehen ist, als Terroranschlag ein. Und wenn ein Terroranschlag stattfindet, ist für jedes Land natürlich das oberste Anliegen, die eigene Sicherheit zu verteidigen und entsprechend zu handeln. Im Moment sind wir damit beschäftigt.“
Haben Sie überhaupt eine Chance gegen die Hightech-Waffen, die Aserbaidschan einsetzt?
Paschinjan: „Ich glaube, dass Armenien und das armenische Volk fest entschlossen sind, sich zu verteidigen. Wir haben unsere eigenen Hightech-Geräte, die wir herstellen. Wir haben vielleicht nicht dieselbe Kapazität. Aber wir beabsichtigen, diese Technologien für unsere Selbstverteidigung auch zu entwickeln.“
Was sollte Deutschland jetzt tun?
Paschinjan: „Ich erwarte eine klare Position. Wenn die internationale Gemeinschaft die geopolitische Bedeutung dieser Situation nicht korrekt bewertet, sollte Europa die Türkei nahe Wien erwarten.“
Sollte die deutsche Regierung so wie Macron deutlich machen, wer den Krieg begonnen hat?
Paschinjan: „Ja. Und es sollte die Einbindung von in Syrien rekrutierten Terroristen und Söldnern in diesen Konflikt in der Region durch die Türkei bewerten.“
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