Von Gerd Brendel
Der Vertrag von Sèvres besiegelte vor 100 Jahren das Schicksal des Osmanischen Reichs. Schon Atatürk verhandelte neue Grenzen. Doch Erdogan erhebt noch größere Gebietsansprüche – und beruft sich auf das osmanische Erbe. Ist eine Wiedergeburt denkbar?
Kapitel 1: Der Vertrag
10. August 1920, Sèvres bei Versailles. In einem Ausstellungsraum der berühmten Porzellanmanufaktur warten die Vertreter der Siegermächte des ersten Weltkriegs auf die osmanische Delegation aus Istanbul. Fast zwei Jahre waren nach dem Waffenstillstand von Mudros vergangen, der die Kämpfe zwischen dem britischen Empire und dem osmanischen Reich beendete, zwei Jahre Verhandlungsmarathon in Versailles und Paris.
„Also es gab eben diese große Friedenskonferenz in Paris, an der nur die Alliierten beteiligt waren“, sagt die Historikerin Ellinor Morack. „Also die Verlierer-Mächte haben nicht mitverhandelt.“
Die Verlierer-Mächte: neben dem deutschen Reich und Österreich-Ungarn gehörte das osmanische Reich dazu. In der Serie „Vatanim Sensin“ – Meine Heimat bist Du – wurde die Szene für das türkische Fernsehpublikum vor ein paar Jahren nachgestellt.
Die dreiköpfige Delegation aus Istanbul unterschreibt mit niedergeschlagenen Gesichtern.
„Möge meine Unterschrift Frieden bringen!“ – In der Filmszene wird der fromme Wunsch dem Istanbuler Diplomaten, Mediziner und Philosophen Riza Tevfik in den Mund gelegt. Ein Wunsch der sich nicht erfüllte. Der Vertrag, sagt Morack, „letztendlich wird der als Totgeburt bezeichnet.“
Zerbrechlicher als das Porzellan, das in dem Saal ausgestellt wurde, denn der Vertrag wird von Konstantinopel unterschrieben, nicht von Ankara. In der türkischen Fernsehserie, erkennt der britische Außenminister George Curzon den Schwachpunkt.
Ankara – das war die anatolische Kleinstadt, in der seit dem Frühjahr 1920 die sogenannte „große Nationalversammlung“ tagte – einberufen von Mustafa Kemal, dem späteren Atatürk, quasi als Gegenregierung zum Kabinett des Sultans in Konstantinopel. Dessen Macht bestand nur noch auf dem Papier.
Sèvres schreibt die Aufteilung des Riesenreiches fest
Die Hauptstadt des Reichs: Besetzt von den Siegermächten, die Provinzen im Osten und Süden, von Mekka bis Kairo, von Damaskus bis Bagdad: Unter französischer und britischer Kontrolle. Izmir und die Ägäisküste: Besetzt von griechischen Truppen. Der Friedensvertrag von Sèvres schreibt die Aufteilung des Riesenreiches unter den Weltkriegs-Siegern fest.
„Die letzte Zuckung des Imperialismus!“, nennt die Turkulogin und Historikerin Ellinor Morack das Vertragswerk. „Gestern war ein unglückseliger Tag für unser Land. Die Abgesandten der Regierung in Istanbul unterschrieben den Papierwisch von Sèvres ohne mit der Wimper zu zucken.“
Diese Zeitungsschlagzeile, die da in der Fernsehserie „Vatanim Sensin“ von einer Kinderstimme vorgelesen wird, stellt Riza Tevfik und seine Kollegen als die Verräter dar, als die sie später von Atatürks Regierung gebrandmarkt wurden.
Dabei blieb ihnen keine Wahl, sagt Ellinor Morack: „Die Sultansregierung 1920 war natürlich in keiner Weise in der Lage, das abzulehnen. Was hätten sie denn machen sollen? Sie hatten auch selber gar keine richtige Kontrolle mehr über ihre Armee, weil das, was davon übrig war, schon im Dienste der Kemalisten dabei war dagegen Krieg zu führen“ – gegen die scharfen Vertragsbedingungen.
Ihnen zufolge fallen der Großteil Thrakiens mit Edirne und die Küste entlang der Ägäis an Griechenland, Urfa, Mardin an Frankreich, und West-Anatolien an Italien. Ost-Anatolien wird unter den neu zu gründenden Staaten Armenien und Kurdistan aufgeteilt.
Konstantinopel wird unter internationale Verwaltung gestellt. Frankreich und England teilten die Gebiete, die heute Irak, Syrien, Jordanien, Libanon und Israel heißen, untereinander auf.
„Vatanim Sensin“ ist eine der zahlreichen Fernsehserien mit historischem Hintergrund, die in den letzten 10 Jahren in der Türkei produziert wurden: Schauplatz der Familiensaga in 59 Folgen ist das von den Griechen 1919 besetzte Smyrna oder Izmir.
Im Zentrum steht die frei erfundene Liebesgeschichte zwischen der türkischen Widerstandskämpferin Hilal und dem griechischen Offizier Leonidas. Die Szene in Sèvres allerdings entspricht mehr oder weniger den historischen Tatsachen. In der Türkei ist der Vertrag bis heute Schulstoff.
„Was wir damals gelernt haben? Es gab einen Krieg und Sèvres war eine Katastrophe für uns“, erinnern sich Belma Bağdat und ihr Mann, der armenische Kabarettist und Publizist Hayko Bağdat an ihren Geschichtsunterricht. „Und dann hat Atatürk unser Land gerettet und jetzt haben wir eine wunderschöne freie Heimat, errichtet auf den Gräbern der Armenier.“
Vertrag von Sèvres als Schreckensbild
Den Vertrag von Sèvres, sagt Ellinor Morack, „das lernt jedes Kind in der Schule in der Türkei eben als Schreckensbild!“ Die Historikerin spricht vom „Sèvres-Syndrom“. „Das wird heute in der Politikwissenschaft verwendet, um eben diese Vorstellung zu bezeichnen, dass damals die Großmächte und heute der Westen oder einfach alle anderen Länder nur darauf warten, Anatolien unter sich aufzuteilen“, sagt sie.
„Es ist diese Vorstellung, die bis heute tatsächlich auch von weiten Teilen der nationalkonservativen und der nationalistischen Kräfte geteilt wird. Und wenn man sich den Vertrag von Sèvres anguckt, kann man sagen, die haben ja recht gehabt. Also da gab es ja tatsächlich den Versuch, das Land aufzuteilen. Was dabei nur immer vergessen wird: Er war sowieso schon nicht durchsetzbar, als er unterschrieben wurde.“
Franzosen und Briten waren kriegsmüde und in Ankara organisiert Atatürk mit den Resten der osmanischen Truppen den Widerstand. Neun Tage nach der Unterzeichnung erklärt die große Nationalversammlung alle, die im Kronrat des Sultans für den Vertrag gestimmt hatten, zu Hochverrätern. Zwei Jahre später setzte dasselbe Parlament den letzten Sultan Vaheddin ab, rückwirkend zum Jahr 1920.
„Noch jedes revolutionäre Regime hat behauptet, mit der Vergangenheit komplett zu brechen. Und viele Wissenschaftler haben das in diesem Fall jahrelang geglaubt“, meint der türkisch-kurdische Historiker Yektam Türkyilmaz. Er kennt die Erzählung vom Trauma Sèvres und dem revolutionären Befreier Atatürk.
Dessen türkische Republik verstand sich als bewusstes Gegenmodell zum osmanischen Vielvölkerstaat mit dem Sultan an der Spitze, der auch als Kalif, als geistliches Oberhaupt aller Muslime regierte. Bewusst brach Kemal Mustafa, genannt Atatürk, Vater der Türken mit Traditionen. Die Einführung des lateinischen Alphabets, das Verbot des Fez: Bis heute oft zitierte Beispiele der rasanten Modernisierungskampagne.
Aber, so Yektan Türkyilmaz: „Das ist die Geschichte, wie sie uns die Kemalisten weismachen wollen. Aber ich glaube die Kontinuitäten zwischen osmanischen Reich und Republik sind bedeutender als meist angenommen wird.“
Kapitel zwei: Die untoten Geister des erhabenen Staates
„Der Osmanismus ist nie verschwunden“, sagt Yektan Türkyilmaz. Er forscht zum Völkermord an den Armeniern und zum späten osmanischen Reich und lehrte an der Duke University in den USA. Kurz vor einer Forschungsreise nach Armenien wurde er von den türkischen Behörden kurzzeitig verhaftet. Jetzt lebt er in Berlin.
„Osmanismus“ – der Begriff führt zurück in die Offizierskasinos und Salons des „erhabenen Staates“ im 19. Jahrhundert. Mustafa Kemal war nicht der erste Reformer: „Der sogenannte Osmanismus entsteht als Idee zur Rettung des Reichs, als sich der Staat aufzulösen beginnt.“
Im 19. Jahrhundert fordern immer mehr osmanische Provinzen auf dem Balkan politische Eigenständigkeit. Die Griechen hatten 1830 ihre Unabhängigkeit erlangt. 1878 folgte Bulgarien, 1881 Rumänien, 1882 Serbien. Zwar gehören noch große Teile des heutigen Griechenlands, Thrakien und Mazedonien zum osmanischen Reich, aber auch hier untergraben Unabhängigkeitsbewegungen die Autorität des Devlet-i ʿAlīye, des erhabenen Staats.
Jahrhundertelang regelte das Millet-System die Rechte und Pflichten der christlichen und jüdischen Minderheiten. Millet lässt sich mit Religionsgemeinschaft übersetzen. So gab es ein orthodoxes Millet mit dem griechisch-orthodoxen Patriarchen von Konstantinopel und ein armenisches mit dem armenischen Patriarchen als Oberhaupt.
Innerhalb ihres Millet genossen Juden und Christen eine gewisse Eigenständigkeit. Dafür mussten sie höhere Steuern zahlen und waren vom Staats- und Militärdienst ausgeschlossen. Im 19. Jahrhundert wächst die Kritik am alten Millet-System und die Oppositionsbewegung der „Jungtürken“ propagiert die Idee einer „osmanischen“ Bürgeridentität.
„Tanzimat“ wird die Epoche der Reformen im osmanischen Reich genannt, die schrittweise bis zur Verfassung von 1876 allen Untertanen des Sultans gleiche Rechte garantierte – auch wenn der Padişah Abdülhamid II die Verfassung wenig später wieder außer Kraft setzte. Von ihm wird später noch ausführlich die Rede sein – die Idee von der osmanischen inklusiven Identität bleibt trotzdem lebendig, 30 Jahre lang, bis 1908 die Jungtürken den autoritären Sultan durch einen willfährigen Nachfolger austauschen, und die Verfassung wieder in Kraft setzen.
„Wir sind Osmanen reinster Gesinnung!“
Im neu gewählten Parlament sitzen griechische, armenische und jüdische Abgeordnete gleichberechtigt neben ihren muslimischen Kollegen. „Von 1908 bis 1912 bedeutete ‚Osmanismus‘: Religiöse und ethnische Unterschiede spielen keine Rolle“, sagt Yektan Türkyilmaz. Der Historiker hat Tondokumente aus der Zeit gesammelt. Auf einer Schellack-Platte von 1909 lässt der Tenor Ibrahim Effendi das Vaterland und die Armee hochleben. „Wir sind Osmanen reinster Gesinnung!“
Osmanischer Verfassungspatriotismus. Auch der junge Arzt und Politiker Riza Tevfik sitzt im neuen Parlament. Elf Jahre nach der Schallplattenaufnahme wird er in Sèvres mit seiner Unterschrift das Ende des osmanischen Reichs besiegeln. Dazwischen liegt der verlorene erste Weltkrieg und der Völkermord an den Armeniern, angeordnet ausgerechnet von den Jungtürken, die wenige Jahre zuvor noch eine inklusive osmanische Identität beschworen hatten.
Im April 1920 war in Ankara wieder ein Parlament zusammengetreten. Die „große Nationalversammlung“, einberufen von Atatürk. „Ein großer Unterschied zum Parlament von 1909 fällt sofort auf“, erklärt Türkyilmaz, „das Fehlen christlicher und vieler jüdischer Abgeordneter. Multiethnisch war die Versammlung aber trotzdem, mit Vertretern unterschiedlicher Gruppen: Arabern, Kurden, Tscherkessen.“
Der „Osmanismus“ als Schirm, unter dem viele Ethnien Platz finden, lebte fort – allerdings mit Einschränkungen.
„Die kemalistische Lesart des Osmanismus bringt immer noch unterschiedliche Gruppen zusammen, aber jetzt ist der gemeinsame Nenner der Islam, genauer der Islam der Suni-Muslims. Statt von türkischen Nationalismus sollte man lieber von ‚Suni-Nationalismus‘ sprechen, immer noch pluralistisch, aber für Christen oder Juden gab es keinen Platz mehr.“
„Eine wunderschöne freie Heimat, errichtet auf den Gräbern der Armenier!“ Der Kabarettist Hayko Bağdat meint das nicht nur im übertragenen Sinn. Auch wenn Atatürk keine Verantwortung am Völkermord trug. Die junge Republik profitierte von den Folgen der tödlichen Vertreibung. „Die Republik, die nach dem Völkermord gegründet wurde, behielt alles, was früher den Armeniern gehört hatte. Das war der Grundstock für das Vermögen der jungen Republik.“
„Am Ende des Krieges, kommen die überlebenden Armenier zurück,“ ergänzt die Historikerin Ellinor Morack. „Ja, und das sind je nach Region unterschiedlich viele und es gibt sofort Konflikte zwischen ihnen und den Leuten, die an ihrer Stelle angesiedelt worden sind. Und es gab natürlich auch jede Menge Leute, die profitiert haben von dem Völkermord oder eben von der Vertreibung der Griechen, die Firmen oder Land übernommen hatten.“
Die Auslöschung der armenischen Bevölkerung hatten die Jungtürken mitten im ersten Weltkrieg angeordnet. Die neue Regierung in Ankara dachte nicht daran, die wenigen Überlebenden zu entschädigen. Heute leben noch circa 60.000 Armenier in der Türkei. Die meisten von ihnen in Istanbul. Das Trauma des Völkermords sitzt tief.
Ja nicht auffallen, das lernte Hayko Bağdat schon als kleiner Junge. „Auf der Straße durfte ich nicht ‚Mama‘ zu meiner Mutter sagen sondern türkisch ‚Anne‘. Ich hatte eine Halskette mit einem Kreuz, aber ich musste es unter dem Hemd tragen und wusste nicht warum.“
Neuer Vertrag mit den Siegermächten in Lausanne
Drei Jahre nach der Konferenz Sèvres wurde auch die zweite große Minderheit, die der Griechen aus Anatolien vertrieben. Kemal Mustafa Atatürk drängte die griechische Armee erfolgreich zurück. Im September 1922 verließ der letzte griechische Soldat Kleinasien und 1923 schlossen die Siegermächte des ersten Weltkriegs in Lausanne einen neuen Vertrag, diesmal mit der Regierung in Ankara.
Sèvres war zu Makulatur geworden. Die türkische Republik wurde als souveräner Staat anerkannt mit Grenzen, die im Wesentlichen bis heute gelten. Griechenland und die Türkei vereinbarten einen sogenannten „Bevölkerungsaustausch“. Eine halbe Millionen Muslime mussten Griechenland verlassen, eineinhalb Millionen orthodoxe Christen die Türkei. ausschlaggebend war die Religion, so wurden auch türkisch sprechende Christen aus Zentralanatolien vertrieben.
„Es fällt schwer, das kemalistische Staatsverständnis ‚säkular‘ zu nennen, denn säkular legt ein Desinteresse des Staates an der Religion nahe. Aber dieser Staat interessiert sich sehr für die Religion, so sehr, dass er bestimmt wer an ihrer Spitze steht,“ sagt Yektan Türkyilmaz.
An diesem Punkt unterscheidet sich die türkische Republik nicht vom osmanischen Staat. Der Sultan vereinte in seiner Person weltliche wie geistliche Autorität. Als Kalif, als Stellvertreter des Propheten Mohammed, nahm er für sich in Anspruch, der gesamten Umma – der Gemeinschaft aller muslimischen Gläubigen – vorzustehen.
Auf diesen Anspruch verzichtete zwar die türkische Regierung, aber sie duldete auch keine andere geistliche Autorität neben sich. Nachdem das Parlament den letzten Sultan 1922 abgesetzt hatte, wählten die Abgeordneten seinen Cousin zum Kalifen, nur um ihn zwei Jahre später wieder abzuwählen.
„Das Kalifat haben die Kemalisten zwar abgeschafft,“ führt Türkyilmaz aus, „und sie haben sich auch gegen bestimmte religiöse Eliten gestellt, aber das heißt nicht, dass sie nicht eine neue religiöse Elite nach eigenem Gutdünken etablieren wollten.“
Fortan unterstanden die Imame dem Ministerium für Religion. Der Gebetsruf erklang ab den 30er-Jahren auf Türkisch, statt auf Arabisch. „Es war längst nicht die erste dieser säkularisierenden Reformen, aber mit Sicherheit extrem unpopulär“, sagt Ellinor Morack.
Auch im osmanischen Reich bestimmte der Staat über die Religion, nur berief er sich dabei auf die Autorität des Sultans als Kalifen als religiöses Oberhaupt. Der neue weltliche Staat maßte sich an, in Religionsangelegenheiten zu bestimmen, ohne eigene religiöse Legitimation. Das war der eigentliche Bruch mit der Tradition, so Ellinor Morack.
Kapitel 3 : Ankara wird wieder fromm
100 Jahre nach Sèvres und 100 Jahre nach der ersten Sitzung der großen Nationalversammlung in der anatolischen Provinzstadt Ankara ist die türkische Republik immer frommer geworden und das osmanische Reich mit seinem Staats-Islam vom Anti-Modell zum Vorbild, konstatiert Ellinor Morack. „Also, es gibt seit den 40er-, 50er-Jahren diese Bewegung, die man ‚türk-islam sytensi‘ nennt also der Versuch, eben Islam und türkischen Nationalismus zusammenzubringen.“
Ganz so wie die osmanisch-islamische Synthese. Dass seit den 50er-Jahren wieder von den Minaretten auf Arabisch zum Gebet gerufen wird, ist der „hörbarste“ Beleg dieser Entwicklung. Aus den Lautsprechern der Şehitlik-Moschee in Berlin ertönt er in selten guter Qualität.
Die Moschee wurde vor wenigen Jahren von der staatlichen Religionsbehörde in Auftrag gegeben, ganz im Stil osmanischer Bauten, genau wie das Verwaltungsgebäude daneben. Hier hängt über dem Schreibtisch des Vorstands kein Bild Atatürks, sondern das osmanische Wappen.
Ihren Namen „Şehitlik“ – „Märtyrer“ – hat die Moschee von Angehörigen der osmanischen Armee, die hier begraben liegen, darunter zwei jungtürkische Politiker, die maßgeblich am Völkermord an den Armeniern beteiligt waren und hier in Berlin von armenischen Terroristen ermordet wurden.
Was in den 50er-Jahren unter Ministerpräsident Menderes mit dem Gebetsruf begann, gewinnt seit den 80er-Jahren immer mehr an Bedeutung. Unter Präsident General Evren wurde damals islamischer Religionsunterricht wieder Pflichtfach. Atatürk hatte den Islam aus der politischen Arena verbannen wollen. Jetzt zogen islamistische Politiker in das Parlament ein.
1996 wurde Necmettin Erbakan von der „Wohlfahrtspartei“ zum Ministerpräsident gewählt. Seine islamistische Partei wurde verboten. Als eine ihrer Nachfolgeorganisationen wurde 2001 die Partei die Gerechtigkeit und Entwicklung, kurz AKP gegründet. Ihr Vorsitzender hieß Recep Tayyip Erdogan. Der heutige Präsident verteidigt die glorreiche Geschichte des osmanischen Reichs oft und gerne.
Das Geschichtsbild Erdogans
„Es gibt Leute, die uns unserer Vergangenheit entfremden und uns von den eigenen Wurzeln trennen wollen!“, sagte der Präsident anlässlich eines Festakts zum 100. Todestag des vorletzten Sultans Abdülhamid II. Im Istanbuler Yildiz Palast in Istanbul vor zwei Jahren. „Und die Opposition erklärt, dass man der Republik nur treu sein kann, wenn man die eigenen Wurzeln zum Feind macht.“
Aber, so Erdogan weiter: „Wir sollten uns unsere Geschichte wieder aneignen!“ Besonders die Kapitel der osmanischen Geschichte, die zu Erdogans Bild vom islamischen Staat passen. „Wir können uns unsere Geschichte nicht nach Bedarf auswählen, das wäre Verrat“, behauptet der Präsident, was ihn allerdings nicht daran hindert, sehr genau auszuwählen.
In seinem Bild vom osmanischen Reich fehlen die Modernisierungsbestrebungen Anfang des 19. Jahrhundert genauso wie die erste osmanische Verfassung von 1876. Sein Vorbild ist Abdülhamid II, der die Konstitution wenig später wieder aussetzte und das Parlament auflöste, und 30 Jahre autokratisch herrschte, bis er von den „Jungtürken“ abgesetzt wurde. Für Erdogan trotzdem der größte aller 36 osmanischen Herrscher.
Einer der bekanntesten Historiker der Türkei, Ilber Ortayli, sekundierte auf derselben Veranstaltung: „In einem meiner Seminare an der Universität verglichen wir Abdülhamid wegen seiner guten Regierung mit einem der großen römischen Kaiser.“
Eine Deutung, die zumindest ergänzungsbedürftig ist, sagt Ortaylis Kollegin Ellinor Morack. „Er war eine kontroverse Figur schon immer gewesen, weil er es einerseits geschafft hat, während dieser 30 Jahre weitere territoriale Verluste zu vermeiden, aber eben das mit eiserner Hand gemacht hat“, erklärt sie.
„Es gibt in seiner Regierungszeit zunehmend ein Spitzelsystem und Geheimpolizei. Oppositionelle werden entweder ins Gefängnis gesteckt oder ins Exil geschickt, und es gab auch ziemlich umfangreiche Massaker an den Armeniern – in den späten 80er- und 90er-Jahren. Er wird oft als der rote Sultan bezeichnet, im Sinne von: der, an dessen Händen so viel Blut klebt.“
Geschichte als Propaganda-Märchen im Fernsehen
Warum Erdogan gerade Abdülhamid zum Vorbild wählt? Er beantwortet die Frage selbst: „Gott sei Dank, dass unsere Nation solch eine Geschichte schreiben konnte…“ Und dann bedankt sich der Präsident für eine Produktion des türkischen Staatsfernsehens. „Danke für die Serie ‚Payitaht Abdülhamid‘, die bereits in viele Sprachen synchronisiert wird.“ Die Serie „Payitaht Abdülhamid“ läuft seit drei Jahren auf TRT, dem türkischen Staatsfernsehen.
Schon in Folge eins wird klar, welche Art von Geschichte hier erzählt wird. Audienz im Yilmaz-Palast: „Sultan Abdülhamid, stets siegreich, Gottes Segen auf Deinen Wegen“, skandiert die Leibwache zum Auftritt des Herrschers.
Szenenwechsel vom Film-Istanbul zum Film-Wien in das Haus von Theodor Herzl. Der hält seinen eigenen Vater im Keller gefangen und faselt etwas vom jüdischen Staat vom Euphrat bis zum Nil und davon, die Eisenbahn, die der fromme Sultan für die Pilgerfahrt nach Mekka plant, zu entführen.
Geschichte als Propaganda-Märchen, das vor allem einem Zweck dient: Abdülhamid als positive Figur aufzubauen. „Weil er eben ein starker Herrscher war und weil er das Reich zusammengehalten hat“, erklärt Ellinor Mourack, „letztendlich tut sie das auf unsäglich plumpe antisemitische und anti-armenischen Weise.“
Die Feinde lauern nicht nur im Ausland, sondern auch im Palast selbst. Am Frühstückstisch erklärt der Sultan seinem Sohn, warum er wieder einmal eine Zeitung verboten hat: Es gehe ihm nicht um Kritik an seiner Person, sondern um die Untergrabung der staatlichen Ordnung und des Kalifats. Hier spricht der osmanische Herrscher, den der Präsident der Republik den „größten“ nennt und als Vorbild preist.
„Osmanisierung der Gesellschaft – typisch für Erdogan“, sagt der ehemalige Chefredakteur der Zeitung „Cumhuriyet“, Can Dündar. Seit vier Jahren wohnt er in Berlin. In der Türkei erwartet ihn eine mehrjährige Haftstrafe wegen „Präsidentenbeleidigung“. Er hatte über Korruptionsvorwürfe gegen Erdogans Sohn berichtet und über Munitionslieferungen des türkischen Geheimdienstes an islamistische Milizen in Syrien.
Die väterliche Standpauke des Fernseh-Sultans ist nicht die einzige Parallele zur Türkei heute. Keine Folge der Serie lässt sich Historiker Yektan Türkyilmaz entgehen. „Statt türkische Zeitungen zu lesen, kann man genauso gut die Folgen von ‚Payitaht Abdülhamit‘ sehen. Es geht nur um die aktuelle Politik. Die Serie könnte nicht weniger von Abdülhamid handeln und nicht mehr von Erdogan.“
1905 verübten armenische Attentäter aus Rache für Massaker an den Armeniern auf den Sultan einen Anschlag, der misslang. In der Serie richtet die Palastgarde die Waffen gegen ihren Herrn, angestiftet vom armenischen Patriarchen. „Diese Szene muss man letztendlich als Allegorie auf den Putsch von 2016 lesen, dass sich das Militär gegen den Sultan oder eben gegen Erdogan gewendet hat.“
Und Im Frühjahr dieses Jahres drohte dem Reich Abdülhamids eine ganz neue Gefahr: In Folge 115 befiehlt eine hasserfüllte Madame Blavatsky – mit der historischen Esoterikerin teilt die Serienfigur nur ihr exzentrisches Auftreten: „Es ist Zeit, den Virus frei zu setzen!“
Noch mehr TV-Serien mit osmanischen Helden
„Payitaht Abdülhamid“ ist nicht die einzige Serie mit osmanischen Helden. In den 2010er-Jahren verfolgten Millionen Zuschauer in 45 Ländern den Aufstieg Süleymans des Prächtigen in der Fernsehserie „Muhteşem Yüzyıl“, zu Deutsch „Das prächtige Jahrhundert“.
Erregten sich traditionsbewusste Muslime damals noch über die Dekolletés im Harem und über einen Wein trinkenden Padişah, führen die aktuellen Serien-Sultane ein mustergültiges Leben. Das gilt für den letzten Autokraten auf dem osmanischen Thron, wie für den Allerersten.
Auf dem internationalen Markt bis nach Indonesien noch erfolgreicher als „Payithad“ ist die Serie „Dirlis Ertugrul“: Auferstehung Ertugrul über den legendären Urahn der Osmanen im 13. Jahrhundert. Sein Sohn Osman gab der Dynastie ihren Namen. Dirlis Ertugrul ist eine Art „muslim Game of Thrones“ und ein weltweiter Erfolg.
„Wie schön, endlich mal Muslime als positive Helden zu sehen“, freut sich eine Muslima mit Kopftuch in einem Werbe-Clip zur Serie.
„Wir bringen Gerechtigkeit bis in jeden Winkel der Erde“, verkündet der Film Ur-Osmane. „Und weder böse Kreuzritter noch Byzantiner, noch intrigante Widersacher im eigenen Lager können ihn dabei aufhalten!“
Die osmanische Geschichte als Exportschlager und Ablenkungsmanöver
„Stolz auf die Vergangenheit, um das Versagen von heute zu kompensieren“, so erklärt der Journalist Can Dündar die Begeisterung der türkischen Regierungselite für die Sultane. Die einstige Größe des „erhabenen Staats“ liefert dazu auch noch die Begründung, für die, so Dündar, abenteuerliche Außenpolitik Ankaras. „Die Regierung will in den Ländern, die früher unter osmanischer Kontrolle standen, Einfluss gewinnen und dominieren, wenn sie nicht einmarschieren können, dann wenigstens indirekt!“
Der Historiker Yektan Türkyilmaz bestätigt: „Die Türkei erhebt Gebietsansprüche gegenüber Armenien, dem Irak, Syrien, Griechenland, Zypern und beruft sich dabei auf das osmanische Erbe.“
Hagia Sophia als nützliches Werkzeug
Wobei Erdogans politischen Zielen im Ausland vermutlich weitaus weniger Erfolg beschieden sein werden, als den von ihm so sehr geliebten historischen Serien. Im Inland allerdings konnte die AKP erst vor kurzem einen Sieg von hohem politischen Wert verbuchen im „Tauziehen zwischen osmanischer-islamischer Vergangenheit und der säkularen Republik von heute“, so Dündar.
„Es war klug, die Hagia Sophia während der Wirtschaftskrise auf die Tagesordnung zu setzen. Ein nützliches Werkzeug, um für das osmanische Reich und gegen die christliche Welt Stimmung zu machen“ – und gegen den Vater der Republik. 1934 hatte Atatürk die Hagia Sophia zum Museum erklärt. Der Eroberer Konstantinopels, Mehmet Fathi, hatte den gewaltigen Kirchenbau 1453 zur Moschee umgewidmet, so wie am letzten Freitag Präsident Erdogan.
Vor so viel Symbolpolitik verstummten selbst die oppositionellen Sozialdemokraten von der CHP, die ansonsten gerne auf ihr kemalistisches Erbe pochen. „Ein kluger Schachzug, mit dem er sich die Unterstützung der Oppositionsparteien holte“, sagt Dündar. „Selbst die Sozialdemokraten halten still, weil sie den Gefühlen von Muslimen nicht zu nahetreten wollen. Und der CHP Gegenkandidat zu Erdogan bei den Präsidentschaftswahlen, Muharrem Ince, hat angekündigt, am Freitag in der Hagia Sophia mit zu beten.“
Das war am 24. Juli, dem Jahrestag des Vertrags von Lausanne. Das Abkommen revidierte den Friedensschluss von Sèvres. Noch heute sind Plätze und Straßen in der Türkei nach ihm benannt. Ein Erfolg für die junge Republik. Zwei Millionen Menschen in Griechenland und der Türkei verloren damals ihre Heimat, aber Atatürk erreichte die Anerkennung der türkischen Grenzen, wie sie bis heute bestehen.
Erdogan hat in den letzten Jahren immer wieder eine Revision eingefordert und Ansprüche erhoben, auf griechische Inseln und Mosul im kurdischen Teil Iraks: Gebiete die einmal zum osmanischen Reich gehörten. Der Traum vom erhabenen Staat – für den Präsidenten Erdogan ist er noch lange nicht ausgeträumt.
Und für viele seiner Landsleute ist er mittlerweile zum Alptraum geworden: Kritische Journalisten, Politiker, Wissenschaftler oder Künstler, die ihre wirtschaftliche Existenz verloren haben, im Gefängnis sitzen oder ins Exil getrieben wurden, wie etwa der Kabarettist Hayko Bagdad, der Historiker Yektan Türkyilmaz oder der Journalist Can Dündar. „Heute kommen sich viele Türken im Exil wie die verbannten oppositionellen Jungtürken vor und Erdogan kommt ihnen wie Sultan Abdülhamid vor. Die Geschichte wiederholt sich!“
Auch für Riza Tevfik, dem Mitunterzeichner des Vertrags von Sèvres. Er überwarf sich mit den Jungtürken. Die Massaker an den Armeniern verurteilte Tevfik. Aber auch die junge Republik bot dem Liberalen keine politische Heimat. Er lehnte Atatürks Nationalismus ab und wurde verbannt. Im Exil schrieb er Gedichte. Eines trägt den Titel: „Uçun Kuşlar“ – „Fliegt ihr Vögel, dahin wo ich geboren wurde“.
In den 80er-Jahren wurde es von dem Sänger Ahmed Kaya vertont, auch er ein Türke im Exil:
„Fliegt Vögel, fliegt. Es gibt keine Treue.
Kein Echo wirft mein Rufen zurück.
Kalt ist die Asche an diesem Feuerplatz.“
Erzähler: Tonio Arango
Ton: Jan Fraune
Regie: Giuseppe Maio
Redaktion: Martin Hartwig und Winfried Sträter
Gerichtsentscheidung zur Hagia Sophia – Moschee statt Museum
(Deutschlandfunk Kultur, Fazit, 10.07.2020)
Historische Geografie – Wie weit reicht Europa?
(Deutschlandfunk Kultur, Zeitfragen, 25.03.2020)
Historischer Konflikt – Die belastete Beziehung zwischen Griechenland und der Türkei
(Deutschlandfunk, Europa heute, 09.03.2020)
Feature Image:
- General Hadi Pascha, damaliger türkischer Minister für öffentliche Bildung, bei der Unterzeichnung des Friedensvertrag von Sèvres. (imago images / United Archives International)
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